E. Bar-Chen u.a. (Hgg.): Jüdische Geschichte

Titel
Jüdische Geschichte. Alte Herausforderungen - neue Ansätze


Herausgeber
Bar-Chen, Eli; Kauders, Anthony
Reihe
Münchner Kontaktstudium Geschichte 6
Erschienen
München 2003: Herbert Utz Verlag
Anzahl Seiten
212 S.
Preis
€ 14,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joachim Schlör, Kollegium Jüdische Studien, Universität Potsdam

Im Bereich der zeitgenössischen Jüdischen Studien scheint die Zeit für erste Bilanzen gekommen. Mitte der 1960er-Jahre gab es mit der Gründung von Lehrstühlen und kleineren Instituten für Judaistik eine erste „Institutionalisierung Jüdischer Studien in Deutschland“ (Michael Brenner), mit der Gründung der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg 1979 entstand die erste Einrichtung, die „einen breiten Fächerkanon von Bibel und Talmud über Geschichte, Philosophie, Literatur bis hin zu Soziologie, Musik und Kunst“ abdeckte. Seit Anfang der 1990er-Jahre wurde eine ganze Anzahl von Lehrstühlen und Instituten neu eingerichtet und die Bandbreite von Lehre und Studium im Bereich jüdischer Geschichte, Religion und Kultur beträchtlich erweitert: 1992 entstand an der Universität Potsdam das Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, zum Wintersemester 1994/95 nahm der interdisziplinäre Studiengang Jüdische Studien dort seine Arbeit auf; 1995 wurde in Leipzig das Simon Dubnow Institut für jüdische Geschichte und Kultur gegründet, Dan Diner hat kürzlich mit dem zweiten Band der neuen Reihe „Toldot“ eine Bilanz der dortigen Arbeit vorgelegt; 1997 wurde Michael Brenner auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für jüdische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München berufen, gemeinsam mit Stephan Rohrbacher veröffentlichte er im Jahr 2000 einen Überblick über die Entwicklung der „Wissenschaft vom Judentum“.1 2001 gründete Klaus Hödl das Zentrum für Jüdische Studien an der Universität Graz, er legte 2003 einen Band mit „Reflexionen zu Theorie und Praxis eines wissenschaftlichen Feldes“ vor.2 Im Frühjahr 2004 weihte die Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf das neu konzipierte Institut für Jüdische Studien ein, es ist mit vier Professuren das größte seiner Art in der Bundesrepublik. Die Phase der Eifersüchteleien zwischen einer traditionellen Judaistik und dem neuen Feld der Jüdischen Studien ist wohl zu Ende, jetzt geht es eher darum, das Profil des Feldes zu schärfen und neue Formen der Kooperation zwischen den beteiligten Disziplinen, von der Religionswissenschaft bis zu den Philologien, zu suchen. In diesem Sinne fand im Herbst 2004 eine Konferenz „Zum Stand der Jüdischen Studien im deutschsprachigen Raum“ unter Beteiligung von Vertretern fast aller genannten Institute und Lehrstühle in Potsdam statt – wie gesagt, es scheint eine Zeit der Selbstvergewisserung zu sein, eine Zeit für Rückblick und Ausblick.

Unter den beteiligten Disziplinen ist (neben der Judaistik) wohl die Geschichtswissenschaft das am besten etablierte Fach, das ist den Arbeiten von Stefi Jersch-Wenzel, Monika Richarz und Reinhard Rürup zu verdanken, die zu ihrer Zeit vom heute bestehenden Netzwerk aus Instituten und Forschungsprogrammen nur träumen konnten. Aber auch dieses Feld ist seit dem Mauerfall und der Öffnung Osteuropas in Bewegung geraten. Im Rahmen des Münchner „Kontaktstudiums Geschichte“ – einer Einrichtung, die „die Kommunikation zwischen den Bereichen Schule und Universität“ intensivieren soll – versuchten im Herbst 2002 Vertreter der Forschung zur jüdischen Geschichte, den aktuellen Stand in ihrem Bereich darzustellen und zugleich Möglichkeiten der Vermittlung im Schulunterricht zu diskutieren. Michael Brenner eröffnet den vorliegenden Band mit einem Überblick über „Jüdische Geschichte und Kultur an deutschen Universitäten“ (S. 13-24). Nach wie vor dominiert, was nicht anders sein kann, „die systematische Ermordung von Juden durch Deutsche den Blick der Deutschen auf die jüdische Geschichte und Kultur auch Jahrzehnte nach den Taten“ (S. 17). Aber mehr und mehr wird, auch durch die geleistete Arbeit in Forschung und Lehre, deutlich, dass „die Reduzierung jüdischer Geschichte auf die Opferrolle, auf die Verfolgungsgeschichte allein“ den historischen Tatsachen nicht gerecht wird. Während aber an den genannten Instituten „ein breites Spektrum von jüdischen Themen“ erforscht und behandelt wird, bleibt jüdische Geschichte an den meisten Universitäten und in den historischen Überblickswerken am Rande, reduziert auf den Antisemitismus; hier bleibt noch viel integrative Arbeit zu leisten. Michael Brenner plädiert aber auch dafür, dass „die Historiker der jüdischen Geschichte den Blick nach außen offen halten“ (S. 19) und jüdische Geschichte immer „im größeren Kontext der jeweiligen Umgebung“ lesen. Jenseits des in der Öffentlichkeit und in den Medien bei jüdischen Themen immer spürbaren „Hauch des Exotischen“ (S. 20) und jenseits der Präsentation jüdischer Kultur als „Modeerscheinung“ kann die Geschichtswissenschaft an einem „faszinierenden“ Thema arbeiten: Jüdische Geschichte und Kultur, so Brenner, „ist das Eigene und das Fremde zugleich“, eine Auseinandersetzung mit ihr ermöglicht immer auch einen besonderen Blick auf die allgemeine, deutsche, europäische oder transnationale Geschichte.

In Deutschland steht die deutsch-jüdische Geschichte im Vordergrund, dabei lebten hier nie mehr als fünf Prozent aller Juden. Eli Bar-Chen plädiert in seinem Beitrag über „Die Juden unter dem Halbmond“ (S. 25-34) dafür, die Teile der jüdischen Geschichte wahrzunehmen und zu erforschen, die „von den Entwicklungen und Prozessen in der islamischen Welt beeinflußt“ wurden und damit dem auch in der heutigen arabischen Wahrnehmung bestehenden Bild einer Gleichsetzung von Juden mit „dem Westen“ etwas entgegenzusetzen: Forschungen über die Vergangenheit der Juden aus der islamischen Welt. Bar-Chen leistet hier auch einen Beitrag zur Kritik der traditionellen eurozentrischen jüdischen Historiografie. Judentum und Islam haben auch eine gemeinsame Geschichte, das gilt nicht zuletzt für die nach 1948 aus arabischen Ländern nach Israel eingewanderten Bevölkerungsgruppen. Israel ist, in einem Beitrag von Marcus Pyka (S. 35-46), der nächste Bezugspunkt. Das Verhältnis zwischen „Israel und Diaspora“, die Bedeutung Palästinas – Erez Israels – für das Judentum bildet den Kern der Debatten um jüdische Identität(en) durch die Jahrhunderte: Dem Land der biblischen Offenbarung ist Heiligkeit eingeschrieben, das hat die jüdische Diaspora immer wieder gezwungen, „die eigene Existenz fernab dieses Zentrums zu begründen“ (S. 37). Pyka behandelt dieses Verhältnis am Beispiel der jüdischen Historiografie, von Graetz über Dubnow bis zur Gründung der „Jerusalemer Schule“ um Jizchak Frit Baer und Ben-Zion Dinaburg, geht aber auch auf die Situation von Juden aus Deutschland ein, die vor dem NS-Regime flüchteten und in Palästina keinen „so sicheren Hafen“ finden konnten, „wie man sich das hätte wünschen können“ (S. 43). Auch die historische Forschung verbleibt notgedrungen in der Ambivalenz; sie kann die Gleichsetzung von Juden mit Israelis und dem Staat Israel, wie sie nicht nur unter Antisemiten verbreitet ist, zurückweisen, aber sie muss, mit Erich S. Gruen auch konstatieren: „Palestine matters“, im Hellenismus ebenso wie heute.

Gideon Reuveni plädiert für eine neue „jüdische Wirtschaftsgeschichtsschreibung“, die dazu beitragen kann, Stereotype wie das vom „Geldjuden“, vom „Shylock“ zu relativieren; sie sollte aber Juden nicht nur als Produzenten, sondern auch verstärkt in ihrer Rolle als Konsumenten erforschen (eine erste Tagung zu diesem Thema, organisiert von Reuveni und Nils Römer (Southampton), wird im Juni 2006 in London stattfinden). Die folgenden Beiträge befassen sich mit unterschiedlichen Aspekten jüdischer Religion – der Tradierung jüdischer Religiosität in einer Familie bei Heike Specht (S. 59-76) und der „geistige[n] Formung durch die eigene Tradition und die Minderheitssituation“, die, so Michael Heinzmann, „spezifische, unverwechselbare Strukturen hervorgebracht“ haben (S. 89). Ohne Kenntnis und Studium der „religiösen“ Texte sind diese Strukturen nicht zu verstehen, ebenso können Jüdische Studien auf eine Auseinandersetzung mit jüdischer Philosophie und „jüdischem Denken“, so Heinzmann in einem zweiten Beitrag (S. 91-102) nicht verzichten. Avinoam Shalem befasst sich mit der komplexen Identität jüdischer Kunst (S. 103-110) und sieht darin eine besondere Herausforderung sowohl für die Kunstgeschichte wie für die Sozialgeschichte, Rachel Perets schreibt über die hebräische Sprache (S. 111-122) und geht dabei auch auf die unbefriedigende Situation des Hebräischunterrichts an deutschen Universitäten ein. In diesem Mosaik wird deutlich, dass und wie im Rahmen von Forschungen zur jüdischen Geschichte die klassischen Felder der Geschichtswissenschaft überschritten werden müssen.

Der schönste Beitrag im vorliegenden Band (wenn das eine taugliche Kategorie ist, was der Rezensent hofft) stammt von Mirjam Triendl. In einer mikrohistorischen Studie beschäftigt sie sich mit der Rolle, die Bücher und Bibliotheken in den Erinnerungen von ehemaligen Angehörigen der jüdischen Jugendbewegung Polens spielen. Das mag als kleines Feld erscheinen; aber Triendl kann zeigen, wieviel Wissen über Geschichte (etwa über den Begriff einer „kulturellen Autonomie“ der Juden in Polen), über die Lebensformen im Schtetl und in den Großstädten Polens, über Literaturen und Übersetzungen oder auch über die Shoa und die Vernichtung des Ghettos von Wilna aktiviert werden muss, um ein solches Thema bearbeiten und die Geschichte von Menschen als eine Geschichte von Büchern schreiben zu können. Mit der Shoa befassen sich schließlich die letzten drei Beiträge des Bandes, es geht um die Rolle des Fiskus bei der Entziehung und Verwertung jüdischen Vermögens in München, um Formen der „Vergangenheitsbewältigung in München“ und um „politisch-moralische Herausforderungen“ an das historische Lernen in der Schule am Beispiel der „Holocaust education“. Diese Zusammenstellung verdankt sich wohl der Funktion dieses Münchner Kontaktstudiums, und alle diese Fragen sind im Rahmen einer allgemeinen Debatte über Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur von Bedeutung; es ist aber doch ein wenig schade, dass die anfangs von Brenner aufgestellte Forderung, jüdische Geschichtsforschung nicht auf die Verfolgungsgeschichte zu reduzieren, durch diese Schwerpunksetzung am Ende wieder relativiert wird. Insgesamt ist aber die hier zu konstatierende Öffnung der Geschichtswissenschaft zu anderen Disziplinen, Themenfeldern und Schreibweisen sehr zu begrüßen; bleibt zu hoffen, dass Religions- und Literaturwissenschaft dem Beispiel folgen.

Anmerkungen:
1 Brenner, Michael; Rohrbacher, Stephan (Hgg.), Wissenschaft vom Judentum. Annäherungen nach dem Holocaust, Göttingen 2000.
2 Hödl, Klaus (Hg.), Jüdische Studien. Reflexionen zu Theorie und Praxis eines wissenschaftlichen Feldes (Schriften des Centrums für Jüdische Studien 4), Innsbruck 2003.

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